Susanne Lüderitz: Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert.
Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen identitätsstörung. Mit einem Vorwort von Michaela Huber. Junfermann, Paderborn 2005, 360 S. ISBN: 3-87387-612-4

Rezensionen

Rezension Bettina Overkamp für EMDRIA

Lüderitz, Susanne:
Wenn die Seele im Grenzbereich von Überleben und Vernichtung zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen Identitätsstörung
Junfermann Verlag Paderborn, 2005, 357 Seiten, 29,50 €

Susanne Lüderitz hat es geschafft, ihre Diplomarbeit in Klinischer
Psychologie an der FU Berlin in Buchform zu veröffentlichen. Anliegen ihres
Buches ist, bisher erfahrungsbasierte Merkmale eines störungsspezifischen
Behandlungskonzeptes für Schwersttaumatisierungen / dissoziative Identitätsstörungen wissenschaftlich zu belegen und bisher unbeachtet gebliebene Zusammenhänge aufzuzeigen.

Dabei verbindet sie vorhandene Analysen zu Folgen und Wirkweise von Folter mit Ansätzen und Konzepten der Trauma-Psychologie, die sie dann im Lichte der Soziologie beleuchtet. Damit schafft sie eine überraschende und fundierte Verbindung, die sehr "logisch" in die Neudefintion von Komplextraumastörungen nach Judith Herman passt.

In den Mittelpunkt stellt Susanne Lüderitz den Körper als Bezugsrahmen: Traumatisierungen spielen sich nicht im "luftleeren Raum" ab (Kap. 2). Um den maßlosen Schmerz nicht fühlen zu müssen und um zu überleben, verleugnet das Opfer seinen Körper: es spaltet ihn zunehmend von seiner Wahrnehmung ab. Extremtraumatisierungen zielen auf die schrittweise Auflösung der Persönlichkeit und damit auf die Verdinglichung des Opfers; wenn es lediglich darum ginge zu töten, bräuchte(n) es nicht soviel Zeit und Mühe. Fr. Lüderitz erläutert anhand des Auflösungsprozesses nach Scarry den zunehmenden daraus resultierenden Welt- und Selbstverlust des Opfers, der sich auch in der Sprachlosigkeit und der Sprachverzerrung äußert (Kap. 2-4und 5).Es geht bei Extremtraumatisierungen um vorsätzliches und maßloses Zufügen von Schmerz.

Die Autorin zeigt den Übergang auf, wie der Begriff "Schmerz" zum Begriff "Stress" verharmlost wird und wie dadurch u. a. auch die(gesellschaftliche) Wahrnehmung der (sprachlosen) Not der Opfer verstellt wird. (Kap. 4). Ihre Strukturanalyse gipfelt in einem Vergleich mit einem3-stufigen analogen Heilungsweg (Kap. 6 und 7). In der Problemanalyse liegt schon der Schlüssel. Der Heilungsweg selber beginnt mit der Verantwortungsübernahme für den eigenen Körper und die (Wieder-)Herstellung von Körperintegrität. In Antwort auf das fragile Gleichgewicht eines zersplitterten Selbsts erfordert der gesamte Heilungsweg ein hohes Maß an Strukturierung.

Susanne Lüderitz` Darstellung basiert nicht nur auf wissenschaftlichen Konzepten; sie hat strukturierte Interviews mit multiplen Menschen herangezogen, um die in qualitativer Forschung entwickelten Konzepte mit Leben zu füllen. Dazu lässt sie an vielen Stellen in ihrem Buch sowohl Betroffene als auch BehandlerInnen zu Wort kommen.

Das Inhaltsverzeichnis wird häufiger mit für mich überraschenden Inhalten gefüllt: So geht es z.B. bei den neurobiologischen Aspekten von Trauma und Sprachlosigkeit auch um die Bedeutung der phylogenetisch aufeinander aufbauenden dreiteiligen Struktur des menschlichen Gehirns: 1)Reptiliengehirn (Energiehaushalt, viel Energieüberschuss, wenn aktivierte Handlung nicht ausgeführt werden kann und so möglicherweise zu denbeobachtbaren elektrischen Störungen im Umfeld einer DIS-Patientin führen), 2) , Emotionales Gehirn 3) Großhirnrinde/präfrontaler Cortex. Susanne Lüderitz wagt sich mit ihrem Buch in die Gratwanderung zwischenwissenschaftlich fundierter Konzept- und Grundlagendarstellung und praktischer therapeutischer Relevanz. Teilweise imponieren die unendlichen Fußnoten, die die Seiten merklich verkürzen. Interessierte Leser erhalten die Möglichkeit, wirklich tief einzusteigen. Auch zitiert sie Quellen und findet Zusammenhänge, die so bisher in der Literatur nicht dargestellt wurden.

Ein Buch für "Liebhaber", WissenschaftlerInnen und neugierige TherapeutInnen, die mehr über Prozesse und Hintergründe wissen wollen.



Claudia Igney für VIELFALT e.V.

Lüderitz, Susanne:
Wenn die Seele im Grenzbereich von Überleben und Vernichtung zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen Identitätsstörung
Junfermann Verlag Paderborn, 2005, 357 Seiten, 29,50 €

Hinter dem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine anregende Analyse umfangreicher, auch bisher kaum beachteter Literatur zu Trauma/Folter/Schmerz und DIS. Insbesondere die Analyse von Elaine Scarry zu Entsubjektivierungsprozessen durch Folter und die Arbeiten von Pierre Janet und Judith Herman bilden dabei die Basis. Folter ist nach Scarry: systematischer Entsubjektivierungsprozess (Zerstörung des inneren Haltes und der Widerstandsmechanismen), systematischer Missbrauch der menschlichen Überlebensfähigkeiten und Entstrukturierungsprozess der Persönlichkeit. Dabei ist neben den psychischen Prozessen der Körper „als Voraussetzung für Schmerz und als Ort des Übergriffs“ zentral. Extremer Schmerz ist verbunden mit Sprachlosigkeit und zunehmendem Selbst- und Weltverlust. Durch vorsätzliche Gewalt wird der eigene Körper enteignet und zum „Fremd“-Körper, der für eine subjektive Identitätsbildung nicht mehr zur Verfügung steht. Das Buch wirkt auf Grund der Materialfülle manchmal überfrachtet und ist nicht einfach zu lesen, enthält aber genau deshalb auch einige „Fundgruben“ für die LeserInnen, z.B. eine akribisch zusammengetragene Darstellung der wellenförmigen Entwicklung der Psychotraumatologie seit dem 19. Jahrhundert (die leider 1996 endet) sowie eine interessante Aufbereitung der Literatur zu Trauma, Dissoziation und Therapie. Das unkonventionelle Zusammenführen der Literatur aus sehr verschiedenen Bereichen/ Schulen verführt in kreativer Art dazu, DIS in neuen Zusammenhängen zu denken. Auch die Kapitel zu den Verbindungen von (v.a. körperlichem) Schmerz- Trauma- Sprache/Sprachlosigkeit weiten den Blick (und die Sensibilität für so manche „objektivierenden“/entsubjektivierenden Begriffe!). Die Autorin ermöglicht damit ein umfassenderes Verständnis für das Entstehen disoziativer Identitätsstrukturen. Folterüberlebende bzw. Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur werden respektvoll und konsequent immer wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt und durch Zitate deren Sicht mit den theoretischen Analysen und gesellschaftskritischen Aspekten verbunden. Sehr wertvoll finde ich auch, dass in alle Analysen der körperliche Aspekt der Dissoziation einbezogen wird. Die Beschreibung der Folgen einer Distanzierung vom Körper (Dissoziation als ein „Sich-Heraushalten aus dem gemarterten Leibe“, dadurch nicht oder zu viel gespürter Schmerz, teilweiser Verlust des Körpers als Mittel der Wahrnehmung und somit als Grundlage der Beurteilung der Welt e.t.c.) sind aufschlussreich. Ich finde es angesichts der Vielzahl (psycho-)somatischer Leiden/Symptome dissoziativer Menschen notwendig, dass solche Erkenntnisse viel mehr Eingang finden in die Fachliteratur und ärztliche/ therapeutische Aus- und Weiterbildungen. Die Konzentration auf Entsubjektivierungsprozesse durch Folter und die entgegengesetzten Prozesse der Heilung als (Rück-)Gewinnung von Selbst und Welt führen allerdings manchmal zu einer Vereinfachung, die das Subjekthafte und trotz allem Lebendige vieler („noch nicht geheilter“) Überlebender zu wenig berücksichtigt. Die Autorin thematisiert dieses Problem allerdings selbst und verweist an vielen Stellen auf diese Gratwanderung: „Einerseits muss   auf das zerstörerische Ausmaß der Gewalt und auf den ganzen Umfang der Verletzung aufmerksam gemacht werden, um der weit verbreiteten Tendenz der Verleugnung und Verharmlosung entgegenzuwirken. (…)(und damit) der überlebensnotwendige Anspruch der Leidtragenden auf eine angemessene Unterstützung verdeutlicht werden. Andererseits soll vermieden werden, dass dieser Fokus in einer defizitorientierten Sichtweise auf die Betroffenen und ihrer Fest- beziehungsweise Abschreibung als lebenslänglich Gezeichnete mündet.“

© VIELFALT e.V. 2005



Rezension Berit Lukas für geocities.com

Lüderitz, Susanne:
Wenn die Seele im Grenzbereich von Überleben und Vernichtung zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen Identitätsstörung
Junfermann Verlag Paderborn, 2005, 357 Seiten, 29,50 €

Manchmal brauche ich beim Lesen mehr Luft zum Atmen und mehr Sicht zum Sehen. So musste ich das Buch von Susanne Lüderitz in einem Raum mit weitreichender Aussicht lesen. Ich bin eine bekennende Fußnotenleserin, wodurch ich mir „selbstauferlegte Stops“ beim Lesen einhandele. Doch auch das kann Sinn machen. Hier, im Sinne der eigenen „Psychohygiene“. Bei einigen Sätzen muss man verweilen, um nicht selber sprachlos zu werden. „Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert“ ist nicht noch ein Trauma-Buch unter vielen anderen. Es ist mehr. Es rüttelt auf (allerdings nur den, der sich wachrütteln lässt).
Es geht um Traumata, ja, und es geht um Extremtraumatisierungen und deren Folgen, aber es ist in einer Art und Weise geschrieben, die beeindruckt und anders ist. Wichtige historische Daten auf dem Gebiet der Psychotraumatologie werden zu Beginn in einer Übersicht dargestellt. Deutlich wird dabei die gesellschaftliche und politische Brisanz der Thematik, wie sie bereits von Judith Herman in „die Narben der Gewalt“ aufgezeigt wurde. Lüderitz stellt Zeiten der Tabuisierung und Phasen der „Wiederentdeckung“ von bekannten (aber in der Gesellschaft wohlweislich „vergessenen“) Erkenntnissen tabellarisch gegenüber. Mutig und wesentlich finde ich die Aussagen über den „Psychotherapiemarkt“, der für Betroffene eine große Bedeutung hat und Fehlverhalten auf therapeutischer Seite mit einschließt. „Dazu kommt, dass gerade dissoziative Störungen damals wie heute neben Unglauben, Ablehnung und Skepsis ebenso starke Faszination hervorrufen, verweisen sie doch auf Bereiche der Beziehung zwischen Körper und Geist, die bisherigen grundlegenden Paradigmen widersprechen. Und die Tendenz ist stark (damals wie heute), darüber das Leid, das dahinter steht, nicht zu sehen.“
Genau das erlebe ich auch in meiner eigenen Arbeit. Menschen mit dissoziativen Störungen haben es bei der Therapeutensuche nicht leicht. Sie müssen gleichzeitig mit „Unglauben“, Skepsis und „oh, ein interessanter Fall“ in den probatorischen Sitzungen (selbst bei ausgebildeten TraumatherapeutInnen) rechnen. „Interessante Fälle“ sind diese Menschen am allerwenigsten; sie haben überlebt. Sie haben Situationen überlebt, über die vielfach noch der Schatten des Schweigens hängt. Dissoziation gilt in ihrer extremen Form als Überlebensmechanismus. Auch das ist nach wie vor Wirklichkeit in Deutschland. Susanne Lüderitz traut sich dies anzusprechen. Das finde ich wichtig. Es folgen Zusammenfassungen über die Bedeutung des Schmerzes sowie der Sprachlosigkeit angesichts des Erlebten. „Wird der Schmerz noch gesteigert, kann es zum gänzlichen Verstummen kommen“ (S. 69).
Auf der Basis von Peter Levines Modellen werden körpertherapeutische Grundannahmen innerhalb der Traumatherapie vorgestellt, sowie auf die Konzepte Pierre Janets verwiesen, die nach wie vor ihre Gültigkeit und Wichtigkeit haben.
Manche Therapeuten glauben allerdings immer noch, dass Menschen mit dissoziativen Strukturen sich ein Schild: „Vorsicht: Berührung verboten“ umgehängt haben. Manchmal jedoch haben sich die Therapeuten das Schild selbst umgehängt, um nicht zu sehr innerlich berührt zu werden, von den Schmerzen und Erfahrungen, die diese Klienten mitteilen. Es wird leicht vergessen, dass „der Körper ein ganz sensibler Erinnerungsort ist“ (S. 146). Die Sprache, die keine Worte für das Erlebte hat, verstärkt diese Form der Verständnislosigkeit und das Isolationsgefühl der Betroffenen (s. S. 79). Die Bedeutung der Sprache bzw. der Sprachlosigkeit, wird von Susanne Lüderitz auf mehreren Ebenen thematisiert, z.B. in Bezug auf die Folgen von Traumatisierungen, Schmerz, Folter, Sprachlosigkeit im System der dissoziativen Identität oder Kommunikationsprozessen innerhalb der Gesellschaft, durch die Gewalt verhamlost wird, wenn das Leiden der Betroffenen darüber vergessen wird. Aber auch die Sprache der Diagnostik wird angesprochen (s. S. 103), die gerade im Bereich der Traumafolge-Störungen viele Umbenennungen erfahren hat, was anhand der Vielfalt an Begrifflichkeiten für dissoziative Identitäts-Strukturen besonders deutlich wird (u.a. Mehrfachpersönlichkeit, multiple Persönlichkeit, multiple Persönlichkeitsstörung, dissoziative Identität, dissoziative Identitätsstörung, was wiederum von einigen Therapeuten „zusammengeworfen“ wird und daraus eine „dissoziative Persönlichkeitsstörung“ wird..., komplexe dissoziative Störung usw.). Da umfassende traumatische Störungen aufgrund kumulativer Traumatisierungen bislang von den Diagnosesystemen nicht erfasst werden, plädiert auch Lüderitz für das Modell von Herman, das einfache traumatische Belastungsstörungen von den komplexeren Trauma-folge-Störungen unterscheidet. Lüderitz zeichnet die posttraumatische und die dissoziative Symptomvielfalt nach und spricht vom „Extremtrauma als Strukturauflösung der Persönlichkeit“. Dissoziation ist in vielerlei Munde; Lüderitz macht auf ein mögliches Unterscheidungskriterium aufmerksam, das sich im therapeutischen Unmgang als brauchbar erweisen kann: steuerbare und nicht-steuerbare dissoziative Prozesse. „Die chronifizierte dissoziative Identität stellt für viele Betroffene eine Extremform der Nicht-Steuerbarkeit bis hin zur Handlungsunfähigkeit dar. Sie beruht auf der wiederholten Erfahrung, ihr Leben kaum beeinflussen oder verändern zu können, weil sie ständig auf schmerzliche Weise damit konfrontiert werden, dass sich ihr Verhalten der Kontrolle ihres Bewusstseins entzieht“ (S. 138). Dargestellt wird auch das BASK Modell (behavior/Verhalten; affect; sensation/Wahrnehmung; knowledge/Wissen, Denken), das von einer Gleichzeitigkeit paralleler Prozesse ausgeht, wohingegen bei dissoziativer Symptomatologie eine Desintegration vorherrscht (s. S. 145). Die schwerste Form der dissoziativen Störungen DIS, ist als Störungs-Bild Hauptthema des Buches. Viele Passagen beschäftigen sich mit tabuisierten Inhalten bei Schwersttraumatisierungen und können somit den eigenen Leser-Blick schärfen, was die Formen vorsätzlicher Gewalt angeht. Die Hinweise auf die Heilungsprozesse haben Allgemeingültigkeit bei posttraumatischen Störungen und beziehen sich nicht nur auf die DIS, zusätzlich werden aber die spezifischen Ansätze und Schwierigkeiten einer DIS Behandlung geschildert.

Als anstrengend habe ich die vielen fettgedruckten Hervorhebungen oder das teilweise zu sehr an bereits publizierten Studien „kleben“ (wie Elaine Scarry) empfunden.
Manchmal ist es sinnvoll auf wichtige Passagen gesondert hinzuweisen, geschieht dies jedoch allzu häufig, verlischt der Effekt. Auch manche Schemata verlieren sich, weil sie dem Leser nicht sofort zugänglich erscheinen, was auch in der hohen Anzahl (71) begründet sein mag. Beachtenswert finde ich jedoch die eigenständige Herangehensweise und Auseinandersetzung mit einer schwierigen und komplexen Thematik, der eine außerordentliche Fleißarbeit zugrunde liegt und die immer wieder Betroffenen-zentriert ist. Das Buch kann nicht nur Trauma-TherapeutInnen viele Denkanstöße liefern, sondern jeden Leser innehalten lassen an Stellen, worüber wir in der Alltagsverwendung von psychologischen Begrifflichkeiten oft schon das „Denken verloren“ haben.
Dem Grauen einen Namen geben. Harry Potter macht es, in dem er „Du weißt schon Wer“ beim Namen nennt. Susanne Lüderitz versprachlicht das Grauen und gibt Hilfestellungen mit ihrem Buch sich einem kollektiven Schweigen, angesichts gesellschaftlich tabuisierter Fragestellungen, zu entziehen. Deshalb wünsche ich dem Buch nicht nur viele LeserInnen, sondern auch einen lebendigen Diskurs über die vielfältigen Inhalte.



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