Susanne Lüderitz: Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert.
Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen identitätsstörung. Mit einem Vorwort von Michaela Huber. Junfermann, Paderborn 2005, 360 S. ISBN: 3-87387-612-4


Vorwort von Michaela Huber

Diplompsychologin, psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Mitbegründerin (1995) und 1. Vorsitzende der deutschsprachigen Fachgesellschaft der ISSTD (International Society for the Study of Trauma & Dissociation)

Als ich das vorliegende Manuskript las, freute ich mich unterwegs an zahlreichen Stellen, einer jüngeren Schwester zu begegnen. Susanne Lüderitz ist mir nicht persönlich bekannt, doch sie offenbart in ihrer Arbeit einen Blick, den ich als den Margaret-Mead-bei-den-Pygmäen-Blick beschrieben habe: Was ist das denn für eine Gesellschaft? Neugier, Offenheit, Mitgefühl und ein Betrachten auch der Tabubereiche einer Kultur sind Bestandteile einer Einstellung, die es ermöglicht, sich zu interessieren, wo andere glauben zu wissen. Mir hat dieser Blick vor vielen Jahren geholfen, das Buch Multiple Persönlichkeiten zu schreiben; und danach jedes andere Buch. Wie bei allen Tabuthemen hilft beim Betrachten der Folgen von Gewalt in unserer Gesellschaft auch der Blick des Mädchens im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, das ausruft: Der hat doch gar nichts an! In Susanne Lüderitz' Buch findet sich diese Haltung des genauen, unbestechlichen Hinschauens auf eine großartige Weise wieder; und so ist ein wissenschaftlich fundiertes, streckenweise originelles und ungemein anregendes Werk entstanden, das ich den LeserInnen wärmstens ans Herz legen möchte.

Aus der Vogelperspektive auf unsere Gesellschaft geschaut, zeigt der unbestechliche Blick, der das Thema umfasst, zunächst, wie sehr Gewalt alltäglich und normal im statistischen Sinne ist - und wie sehr gleichzeitig so getan wird, als sei das nicht so. Meist ist es Gewalt von Männern, geduldet und gefördert von Frauen , gerichtet gegen Frauen und Kinder. Susanne Lüderitz verweist auf Studien, die gern unter Verschluss gehalten werden. Und ich möchte eine hinzufügen, eine sehr wichtige, die von der Autorin bei der Abfassung des Manuskripts noch nicht einbezogen werden konnte: die erste, von der Bundesregierung in Auftrag gegebene, repräsentative Studie in Deutschland über Gewalt gegen Frauen. Über zehntausend Frauen wurden befragt, und die Ergebnisse sind erschreckend eindeutig. Die Zusammenfassung der Studie war sofort vergriffen. Viele KollegInnen haben in letzter Zeit vergeblich versucht, das Zahlenmaterial zu erhalten; es scheint geradezu subversiv zu sein, und es lohnt sich, es zumindest in Auszügen zu verbreiten.

Aus den Antworten auf lange Interviews und Fragebogen ergaben sich unter anderem folgende Befunde: Jede vierte Frau lebte oder lebt gegenwärtig in einer Partnerschaft, in der sie körperlich und/oder sexuell misshandelt wurde oder wird. Um die 10% der befragten 16- bis 80-jährigen Frauen haben sexuelle Gewalt in der Kindheit erfahren; 13% ab dem Alter von 16 strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt; 37% körperliche Gewalt; insgesamt 40% körperlich oder sexuelle Gewalt oder beides. Durchschnittlich 70% erlitten die Gewalt in der Wohnung, in der sie leb(t)en. (Wundert sich noch jemand über die Schlafstörungen von Frauen und Kindern?) Nur 14% der Frauen gaben an, keine Gewalt erlebt zu haben, weder seelische Grausamkeiten, noch körperliche oder sexuelle Gewalt. Wird sexuelle Belästigung mit einbezogen, sind es nur 9%. Gewalterfahrung und Grenzüberschreitungen in Beziehung und Partnerschaft, im öffentlichen Raum und im Beruf ist also nicht die Ausnahme für Frauen, sondern die Regel. Und die Kinder lernen, was sie sehen, miterleben und schon früh am eigenen Leib erfahren. Das prägt, das schnürt die Persönlichkeitsentwicklung ein, und es hinterlässt Spuren.

Susanne Lüderitz hat andere, zum Teil ähnliche Studien durchforstet, und nicht nur solche aus heutiger Zeit; sondern sie ist weit zurückgegangen in der Geschichte. Ihre solide Sichtung auch kaum bekannter Quellen ergibt so manche Überraschung: Wie lange schon gehört es zum eigentlich zugänglichen Wissen, dass Gewalt entsubjektivieren, also das individuelle Gefühl, jemand zu sein, rauben und die Persönlichkeit zerbrechen kann! Wie lange schon gibt es das Wissen, dass körperliche und sexuelle Gewalt unrestrained physical terror darstellen, wie Onno van der Hart es einmal nannte. Die ungehemmte körperliche Folter der Gewalt zwingt die Seele, in Dimensionen zu fliehen, die sich danach nicht mehr spontan integrieren und sich unbehandelt lebenslang fremd sind. Es entsteht eine anscheinend normale Persönlichkeit, die funktioniert, aber weit weniger schwingungsfähig ist, als es eine gewaltfrei herangewachsene Persönlichkeit wäre. Und daneben, dahinter, darunter und manchmal dadurch gibt es Zustände, die sich aus der traumatischen Wahrheit herleiten und sich stets wie Trauma-nah anfühlen: Angst, Verzweiflung, Unterwerfung, Ohnmacht und Hass.

Der unbestechliche Blick erweist auch, wie oft es in der Menschheits-Geschichte schon passiert ist, dass dieses Wissen vom Mainstream der Gesellschaft, ja selbst von der vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung in Frage gestellt und entwertet wurde mitsamt den Leidenden, den HelferInnen und allen, die sich dem Thema der zwischenmenschlichen Gewalt auch nur zu nähern wagten, insbesondere wenn sie es mit dem geschlechts-, rasse-, religions- oder kulturspezifischen Blick taten und tun: RechtsanwältInnen genau so wie ForscherInnen, BeraterInnen, PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, BetreuerInnen und so weiter.

In einer traumaverdrängenden Gesellschaft heranzuwachsen, in der Gewalt gleichzeitig normal ist, bringt zwangsläufig für die meisten Menschen mehr oder weniger verkrüppelnde Lebenserfahrungen mit sich. Dieses Verkrüppeltsein halten wir dann für normal. Ein genaueres Hinsehen kann uns Besseres lehren. Dabei lernen wir vor allem von den Extremen: Wie sieht es bei Menschen aus, die früh, lange und ohne Hilfe zu bekommen die volle Wucht aller Gewaltformen seelisch, körperlich, sexuell erleiden mussten, und die daraufhin im Gesundheitswesen immer wieder um Hilfe nachsuchen müssen? Wie sieht es also für komplex traumatisierte und hoch dissoziative Menschen aus? Sie zeigen es uns, wenn wir hinschauen; sie erzählen es uns, wenn wir bereit sind zuzuhören.

Die Zerstörung von Persönlichkeitsentwicklung durch Gewalt lässt sich mit einem philosophischen Begriff als Entsubjektivierung beschreiben (ein Konzept der Forscherin Elaine Scarry, das Susanne Lüderitz ausführlich darstellt). Sie geschieht vor allem bei extremen zwischenmenschlichen Traumatisierungen, bei der die Opfer das Gefühl haben, dem Tode nahe zu sein. Und sie trifft zu auf den Verrat, den Gewalt von nahen Bindungspersonen wie Eltern gegenüber ihren Kindern darstellt, die für solchen Extremstress ein noch weniger abwehrbereites Gehirn haben. In dieser äußersten Not hilft sich die Psyche des Opfers, indem sie das macht, was wir heute strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit nennen: Die Persönlichkeit desintegriert in reines Funktionieren und abgespaltene Ich-Zustände. Und wenn es sich um ein Kind handelt, kann es sein, dass die Persönlichkeit gar nicht erst integriert, sondern auf einer frühen Stufe des Wechselns von Zustand zu Zustand verbleibt. Allerdings können bei hoch dissoziativen Menschen diese Einzelzustände zu relativer Eigenständigkeit heranwachsen. Sie können Teilpersönlichkeiten werden, die unter Umständen hohe Funktionalität erreichen, während andere Teilpersönlichkeiten im Zustand des Kindlichen verbleiben und wieder andere das Böse des Täters widerspiegeln, fragmentarischen Charakter behalten oder als abgespaltene Erinnerungs-Partikel, so genannte Flashbacks, in die Alltagsperson eindringen und deren Wissen um Hier und Jetzt vorübergehend verdrängen. Erfreulich oft verweist Susanne Lüderitz auf Janets ursprüngliche Auffassung von Dissoziation als der Desintegration von Systemen des Bewusstseins (wir würden heute sagen: von biologisch vorgegebenen Aktions- und Verteidigungssystemen). Es ist ein großes Verdienst der Autorin, die bislang kaum in deutschen Texten präsente Janetsche Theorie mit einigen von ihr aus dem französischen Original übersetzten Zitaten zu erläutern und sie mit modernen traumatheoretischen Auffassungen in Verbindung zu bringen. Dabei legt sie besonderen Wert auf die somatischen Aspekte der Dissoziation: den auch viele Jahre nach dem Trauma nicht oder zu viel gefühlten Schmerz, die Abspaltung des Körperlichen in zahlreiche Dimensionen des Nichtfühlens oder der Schmerzsyndrome. Diese führen nicht nur dazu, dass traumatisierte Menschen immer wieder unter als psychosomatisch bezeichneten (und von vielen, auch Ärzten, als eingebildet konnotierten) Erkrankungen leiden. Sie bewirken auch, dass Traumatisierte zwischen dem Nicht-Fühlen aktueller körperlicher Veränderungen und dem Übermäßig-Fühlen von realen und/oder von früher stammenden Missempfindungen und Schmerzen hin und her wechseln. Was hilft? Was hilft wirklich, die Desintegration der Persönlichkeit nach Trauma zu verändern? Dissoziation, dieser entscheidende und bleibende Abwehrmechanismus in allen Traumafolgestörungen, ist ein Mangel an Integration, und dieser Mangel hat Gründe. Dissoziation verhindert nämlich Erkenntnis. Die Erkenntnis dessen, was an monströsem zwischenmenschlichen Verrat geschehen ist; die Erkenntnis, wer und was es war; die Erkenntnis, dass ein anderer, wichtiger Mensch nicht liebevoll war, sondern sich bewusst entschieden hat, Schmerz zuzufügen, vielleicht sogar in der Absicht zu töten.

Diese Erkenntnis ist so ungeheuerlich, der körperliche und seelische Schmerz so überwältigend, dass es zwei Grundbedingungen braucht, um überhaupt eine solche Trauma-Geschichte zu realisieren, wie Janet es nannte; wir würden heute sagen, um sie integrieren zu können. Erstens braucht es mindestens eine grundsätzlich andere, nämlich liebevolle und Grenzen wahrende Beziehung, möglichst mehrere; aber die therapeutische Beziehung muss in jedem Fall liebevoll und Grenzen wahrend sein, um den Entsubjektivierungsprozess umzukehren. Sicherheit, Vertrauen, Achtung, Eigenverantwortung, Mitmenschlichkeit, neue Struktur; das sind nur manche der relevanten Begriffe dieses therapeutischen Prozesses, der ebenso auf die Beziehung wie nachfolgend auf die Veränderung der traumatisierten Persönlichkeit verändernd Einfluss nimmt. Ganz zutreffend betont Susanne Lüderitz, dass es für diesen therapeutischen Lernprozess Zeit braucht, dass er mit der normalen 80 Stunden-Langzeittherapie, wie Krankenkassen sich das wünschen, nicht zu leisten ist, sondern sehr oft deutlich länger dauern muss, um erfolgreich zu sein. Dies ist ein Dilemma, dem sich die Gesundheitspolitik stellen muss: Erfolgreiche Behandlung von Langzeittrauma dauert mehr Zeit und kostet mehr Geld, als bislang für die meisten Psychotherapien zur Verfügung steht.

Zweitens braucht es wirkungsvolle Methoden, die es dem Gehirn erlauben, das abgespaltene Erinnerungsmaterial und die desintegrierten Persönlichkeitsanteile nach und nach zu integrieren. Wobei Integration etwa bei hoch dissoziativen Menschen nicht heißt, dass sie unbedingt aus der Vielzahl ihrer Teilpersönlichkeiten zu Eins zusammenfinden müssen. Doch es bedeutet, sich willentlich Wissen und aktuell notwendige Information im Gehirn zusammen suchen zu können, ohne weiterhin traumabedingt desintegrieren zu müssen. Um den Integrationsprozess als Beziehungskatalysator zu beschleunigen, muss die TraumatherapeutIn größtenteils nur auf Therapiemethoden zurückgreifen, die prinzipiell seit Alters her bekannt sind: imaginative und hypnotherapeutische Verfahren, wie sie von den Schamanen bis zu den nüchternsten PsychotraumatologInnen praktiiziert wurden und werden. Diese Methoden müssen sorgfältig und kompetent eingesetzt werden und erfordern von der TherapeutIn eine erhebliche menschliche und berufliche Reife. Sie anzuwenden erfordert seitens der TherapeutIn vor allem das vorherige häufig genug auch gleichzeitige oder durch die therapeutische Beziehung angeregte Aufarbeiten der eigenen Erfahrungen von Gewalt und Grenzüberschreitung. Zusätzlich sind körpertherapeutische und andere Prozessierungs-Techniken entwickelt (z.B. EMDR) bzw. verfeinert worden (etwa die Screen-Technik). Sie alle können den Betroffenen helfen, frühere und heutige (Körper-)Empfindungen unterscheiden zu lernen, den abgespaltenen gigantischen Schmerz portioniert freizulassen und die Erinnerung an ihren Ursprung ins Archiv des Bewusstseins zu sortieren. Erst während dieses Prozesses ist sichere Bindung erfahrbar, ist Lernen aus dem Erlittenen möglich, wird die Person zur Persönlichkeit, die sich vielleicht auch anderen Gewaltüberlebenden hilfreich zuwenden und sich selbst-bewusst für eine gesellschaftliche Veränderung einsetzen kann.

Dass TherapeutInnen, die den Heilungsprozess nach Gewalt- und Grenzerfahrungen begleiten, darauf achten müssen, nicht wiederum übergriffig zu werden, versteht sich eigentlich von selbst. Susanne Lüderitz verweist jedoch zu Recht ausdrücklich auf die retraumatisierenden Gefahren, die grenzverletzende Therapien für die Betroffenen mit sich bringen. Leider gibt es immer noch viel zu viele KollegInnen, die ihre Machtposition ausnutzen und ihre KlientIn emotional oder sogar sexuell missbrauchen. Häufig sind es solche, die ihre eigenen Gewalterfahrungen nicht ausreichend bearbeitet haben. Und es gibt auch genug KollegInnen, die in falsch verstandenem Retten-Wollen grenzüberschreitend sind, etwa die vertrauensvolle Zuwendung ihrer KlientIn missverstehen und sich in sie verlieben. Wenn sie das nicht als Gegenübertragung bearbeiten, sondern der KlientIn ein privates Beziehungsangebot machen, wird dies zerstörerische Folgen haben, denn der therapeutische Prozess stellt die KlientIn in den Mittelpunkt und fördert sie. Von der TherapeutIn ist empathische Abstinenz gefordert, um die Subjektwerdung der KlientIn zu ermöglichen. In den Anhängen des Buches findet sich einiges interessante Material zu diesem Thema wie auch z.B. zu diagnostischen und differentialdiagnostischen Kriterien der Traumafolgestörungen.

Da Susanne Lüderitz selbst offenbar nicht psychotherapeutisch arbeitet, könnte man vermuten, das Buch sei theorielastig und praxisfern. Dass es das nicht (nur) ist, sondern in zahlreichen Literaturbeispielen sowohl das Leid der Gewaltüberlebenden als auch die Nöte der therapeutischen Beziehungsarbeit zum Thema macht, lässt über manche zu akribisch wiedergegebene Literaturstudien hinwegsehen. Und dass sie komplex traumatisierte und dissoziative Menschen in ihrer inneren Zerrissenheit und ihrem Kampf um mehr als nur Überleben in den Mittelpunkt gestellt hat und verstehend eine Lanze bricht für das Viele-Sein multipler Persönlichkeiten, hat mich sehr berührt. So wünsche ich diesem Buch viele Viele und überhaupt viele LeserInnen.

Michaela Huber, Herbst 2005

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